Gesehen- und Gehörtwerden: eine Utopie?

Gestern war ich Teil einer illustren Mutterrunde. 

Jede für sich leistet Großartiges, das verstehe ich erst, seit ich selbst Mama bin.

Das Leben meistern und schaukeln ist per se schon eine Leistung und dann auch noch zusätzlich für ein oder mehrere andere Leben Verantwortung zu tragen, das kann schon was! 

 

Es war eine wirklich nette Zeit gemeinsam und trotzdem war der Nachgeschmack etwas bitter. 

Vielleicht war es die letzte Frage an mich: Wie es uns jetzt mit dem Schlafen gehe. Denn als ich "Naja" meinte und die Fakten aufzählte, kam als Reaktion, dass das noch gut sei, sie hätten schlimmere Zeiten (mit hard facts bespickt) hinter sich. 

Ich kam mir danach schwach vor und als hätte ich einfach mit "gut" antworten sollen. 

Auf jeden Fall fühlte sich ein Teil in mir verletzt. Denn ich wollte ehrlich sein und kam mir nicht ernst genommen vor. Meine Antwort wurde bagatellisiert. 

 

Ich weiß, dass das niemand bewusst getan hat. Womöglich wollten sie mich sogar aufheitern damit.

Und trotzdem beschäftigt es mich. Nicht, weil ich ihnen böse bin, sondern weil es repräsentiert, was sehr oft passiert: Dass nicht wirklich zugehört wird.  

 

Stress ist subjektiv

Heute würde ich anders antworten. Denn da lag schon der erste "Fehler". Ich antwortete nicht, wie es mir mit dem Schlafen ging, sondern zählte irgendwelche Fakten auf, die ja völlig aus dem Kontext gerissen waren. 

 

Denn wie es einem Menschen geht, hängt nicht unbedingt mit den harten Fakten zusammen. Natürlich auch. Aber abgesehen davon, dass so viele Dinge zusammenspielen, empfindet jeder anders. 

Das Stressempfinden ist völlig subjektiv. Der Zustand unseres Nervensystems speist sich von von etlichen Faktoren. Jede Erfahrung, die ein Mensch gemacht hat und sogar welche, die er nicht gemacht hat, beeinflussen das Stressempfinden und somit die Reaktion des Nervensystems. 

 

Wie das geht?

Das zentrale Nervensystem des Limbischen Systems ist bereits vier Wochen nach der Zeugung partiell entwickelt. Jedes positive und negative Erlebnis ist in unserem Gehirn und in jeder Zelle unseres Körpers gespeichert. 

Darüber hinaus hat die epigenetische Wissenschaft bewiesen, dass die Erlebnisse unserer Ahnen ebenso auf unsere Zellen einwirken. 

 

Ob etwas stressig für jemanden ist, hängt also wesentlich mehr vom Inneren der Person ab als vom Außen. 

Somit ist die Chance, gehört zu werden, wesentlich größer, wenn man (auch) das persönliche Empfinden teilt als nur die objektive Situation. 

Zuhören wie Momo

Leider - und da kann ich mich nicht ausnehmen - stimmt folgendes Zitat von Stephen R. Covey: 

 

Das größte Kommunikationsproblem ist,

dass wir nicht zuhören, um zu verstehen.

Wir hören zu, um zu antworten. 

 

Botschaften entstehen beim Empfänger.

Ich denke, das Problem ist, dass wir allzu oft einen Appell in der Aussage des Gegenübers hören, zum Beispiel: "Hilf mir!"

Es folgen Ratschläge. Oder wir hören: "Du hast Schuld!" und gehen in innere Abwehr. 

Oder aber es wird etwas in uns aktiviert, woraufhin man reaktionär über sich selbst spricht. "Bei mir war das...."

 

Kürzlich hab ich mir aus der Bücherei Michael Ende´s "Momo" ausgeliehen. 

Momo verändert alles um sich. Ihre Superkraft ist das aktive Zuhören. Momo hört Jedem gleich zu. Sie gibt keine Ratschläge, verurteilt und bewertet nicht. Sie ist völlig präsent, taucht ein in die Gedanken- und Gefühlswelt ihres Gegenübers und sagt: Nichts.

 

Nun ist Momo eine erfundene Gestalt. Und doch zeugt sie von der Realität einer Sehnsucht in uns Menschen:

GESEHEN und GEHÖRT ZU WERDEN.

 

Gesehen zu werden schenkt Trost und gibt Kraft

Als ich gestern Abend im Buch "Das Buch, das du gelesen haben solltest, bevor du Mutter wirst" von Johanna Fröhlich Zapata las, war die Überschrift "Wie es sein könnte - Eine Utopie". 

Es ging darum, wie ein Tag des Familienlebens gleichberechtigt zwischen Vater und Mutter von statten gehen könnte. 

Eine Sequenz davon war, dass ein Elternteil dem anderen von seinem Tag mit dem Kind erzählt. Es wäre anstrengend und mit Sorgen verbunden gewesen. Beide kennen solche Tage und deshalb hört der andere zu und ist einfach da. Denn er weiß, dass man als erschöpftes Elternteil vor allem ein offenes Ohr braucht und das Gefühl, in der eigenen Anstrengung gesehen und wertgeschätzt zu werden. 

Ich spürte beim Lesen instinktiv, wie wahr das für mich ist. 

Dass es mir selber sehr häufig genau darum geht, wenn ich jemanden erzähle, dass etwas anstrengend oder schwer ist. 

Mir ging es selten um Anschuldigung, Hilfe, Ratschläge, Betonung, wie schwer es ist, etc......

 

Das Gefühl, gesehen und gehört zu werden gibt mir sehr viel Kraft und Trost.  Gar Aufwind!

Wohingegen es mir zusätzlich Kraft kostet, wenn ich mich öffne und mir nicht wirklich zugehört wird. Als Schutz passiert es mir dann, dass ich mich dann verschließe oder wütend bin. 

 

Ist die Form des wirklichen Zuhörens, Da seins - so wie Momo es tut - wirklich nur Utopie?

Im soeben erwähnten Buch von Zapata wird eine Utopie beschrieben. Also etwas, was nur in einer Vorstellung existiert. 

 

Wenn ich mich selber frage, ob ich daran glaube, dass diese Form der Kommunikation möglich ist, 

kommt sofort ein JA! 

Realistisch halte ich nicht, es immer und von jedem zu erwarten. Aber auf jeden Fall, es kultivieren zu können. 

Und wie immer darf man selber die Veränderung sein, die man sich wünscht. 

Wer sich einen Garten wünscht, sollte anfangen Pflanzen zu säen (& in meinem Fall Menschen zu sehen).

 

Denn dann wird aus einer Utopie Stück für Stück Realität.