· 

Zeit der Aufwertung

Heute ist es soweit: Mein guter alter VW Polo wird abgeholt. 

Nach über 10 Jahren Beziehung, einem Rehschaden, einem Hagelschaden, vielen anderen Blessuren und Rost trenne ich mich von diesem Schnittchen. 

Grundsätzlich fallen mir solche Abschiede nicht leicht, was man Krebsen wie mir auch zuschreibt. So hab ich das ganze lange hinausgezögert. 

Auch wenn es gar nicht gefragt war, widmete ich mich heute einer letzten intensiven Autowäsche. Als mich die Tochter unseres Vermieters eine Weile beobachtet hatte, meinte sie, ich poliere den Polo ja förmlich. In Wahrheit streichelte ich ihn ;).

Es ähnelte einer letzten Waschung, bevor jemand aufgebahrt wird,

und erst während des Tuns wurde mir bewusst, dass es einem rituellen Akt glich. Einem Akt der Wertschätzung, der Dankbarkeit und des Loslassens. Das alles (und noch mehr) auf die Gefahr hin, pathetisch zu klingen (ich BIN pathetisch).

 

Ein Supervisor sagte einmal, Entwicklung könne nur bei gleichzeitiger Stabilität passieren. Ich glaube, er meinte damit, es brauche immer auch Bereiche, die stabil waren, zuverlässig, Felsen in der Brandung.

Wie sehr habe ich in den vergangenen Jahren nach Veränderung gestrebt! Mein Polo war stets dieser Fels - Ich wüsste nicht, dass er mal nicht angesprungen ist & wenn etwas zu reparieren war, dann Kleinigkeiten. 

 

Umso mehr freue ich mich, einen Mechaniker gefunden zu haben, der ihn anscheinend "genauso" schätzt. Er hat vor, ihn zu reparieren (und zwar nicht nur das allernötigste für das Pickerl), um ihn anschließend weiterzuverkaufen. Auch er sieht noch das Potential.

Während ich so vor mich hinwusch, jede Rille mit Wattestäbchen reinigte, alles ausbaute, was es gab, um es einzuweichen, fühlte ich mich fast in einem Flowzustand. 

Begünstigend war wahrscheinlich auch die Musik: Im Kofferraum hab ich eine Schachtel alter Maxi-CD's gefunden, die ich eigentlich vor über einem Jahr in einen Volkshilfeshop bringen wollte. Die Lieder hatte ich ewig nicht gehört, es waren CD's aus meiner Jugendzeit. Doch natürlich konnte ich jedes einzelne auswendig mitsingen. Angefangen von Kelly Clarkson, Jessica Simpson, über Lee Ryan, Whitney Houston, Nightwish, Söhne Mannheims.

[Ja, Margret, Lee singt noch immer für mich, dass es eine Armee von Liebhabern gibt, die für mich sterben würden^^]

 

Meine Gedanken schweiften umher, & mehrmals kam mir auch die momentane Kriegssituation in der Ukraine und Russland unter.  

Ich habe mir schon vor einiger Zeit vorgenommen, das Geld, das ich für den Polo bekomme, zu spenden.

Jetzt, wo Flüchtlinge Geld gut brauchen können, ist diese Option natürlich eine naheliegende. Mal sehen, wohin das Geld fließen wird. 

Mir gefällt, was mir meine Schwester kürzlich gesagt hat: Sie stelle sich beim Einkaufen manchmal vor, ihr Geld hätte Würde, und sie fragt es, worin es investiert werden möchte. 

Mein Polo hat auf jeden Fall auch Würde verdient. 

 

Und da wurde mir bewusst, dass nicht nur eine Zeit der Entwertung ist,

sondern auch der Aufwertung

Dadurch, dass die Gebrauchtwagenpreise (so wie alle anderen auch) stetig stiegen, 

war (m)ein 20 Jahre altes Auto nicht nur ein Ersatzteillager,

sondern es war es wert, in es zu investieren, ihm neuen Lack und somit auch wieder Sinn zu geben. Ihm wieder Leben einzuhauchen!

Wenn das nicht Aufwertung war! Und Würde.

 

Was ist der Wert von Dingen?

Genau der, den wir ihnen beimessen. 

 

Ich bin jemand, der nur schwer verstehen kann, warum jemand für einen signierten Fußball Tausende Euro ausgibt (45 mal soviel, wie ich für meinen Polo bekomme).

Aber ich verstehe es, wenn Ronaldo dem Ball Würde zuspricht, um damit Hilfsprojekte für Straßenkinder zu fördern.

Am Ende geht es bei Wert um Werte. 

 

Ich bin es leid, Oberflächlichkeiten Wert beizumessen. Oder mich dem zu beugen. 

Was ist Reichtum wirklich?

 

Ich finde meine Freundin reich, wenn sie Kartoffeln nur 10 Minuten kocht, um dann die Platte auszuschalten und sie nur mit der Resthitze zu garen, auch wenn das viel länger dauert. Und das, obwohl sie eine Strompauschale zahlt. 

Es lässt mich ahnen, wie viele Werte dahinter stecken. 

 

Peter Rosegger meinte mal: "Arm ist nicht, wer wenig hat, sondern wer viel braucht."

 

Ich möchte mich vor der bevorstehenden Inflation, Wirtschaftssituation etc. nicht fürchten. Oder dass uns Flüchtlinge etwas wegnehmen könnten....

Denn ich bin mir heute einer Währung bewusst geworden, die immer und für immer ad libitum zur Verfügung steht: Wert-schätzung.

 

Wir selbst bestimmen, welchen Wert wir dem beimessen, was wir haben. 

Und hey: Wir haben Frieden!

 

Das Abschiedslied - wie könnte es  anders sein - Whitney Houstons "I will always love you"
Das Abschiedslied - wie könnte es anders sein - Whitney Houstons "I will always love you"