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Unser Lehrmeister, der Wald

Pollhamer Wald
Pollhamer Wald

Eigentlich wollte ich mich heute für das abendliche erste Peergrouptreffen des Mentaltrainer-Lehrganges vorbereiten, den ich seit kurzem besuche. Ich wusste aber nicht so recht wie, 

und so fand ich mich stattdessen bei einem Waldspaziergang wieder.

Während des Gehens fragte ich mich, was in mir vom Einführungsseminar noch übrig geblieben ist. Verkopft wie ich war, wollte mir nichts wirklich Wesentliches einfallen. 

 

Ich verließ die vorgegebenen Pfade des Pollhamer Waldes, ging lieber querfeldein. 

Die Heilwirkung eines Waldaufenthaltes ist inzwischen schon verbreitetes Wissen. Seine Wirkung stellt sich fast unbemerkt ein, schleicht sich subtil und zart an, dafür garantiert.

Dankbar stellte ich nach einer gewissen Zeit fest, wie entspannt ich nun war. Der Wald, dieser Seilakrobat, hat es wieder mal geschafft, den Knoten in meinem Kopf zu lösen. Und er bescherte mir zugleich die erste Erinnerung an das Einführungsseminar:

 

Entspannung ist die Grundlage des Mentaltrainings. Wenn ich gestresst bin, ist die Türe zum Unterbewusstsein zu. Erst ein entspannter Geist gibt uns die Möglichkeit, auf unser volles Potential zuzugreifen. Entspannung schafft Raum zwischen Stimulus und Reaktion, denn sie bedeutet auch Bewusstsein. Und somit ist Entspannung auch die Grundlage für Freiheit. 

Meine Schwester spricht gerne von unser sogenannten "Stresspersönlichkeit". Das sind wir, wenn wir gerade physisch und/oder psychisch auf Hochspannung sind. Aus dieser Stresspersönlichkeit heraus sagen wir Dinge, die wir so nicht meinen, tun Sachen, die wir bereuen, reagieren triebhaft und oft verletzend (uns selbst und anderen gegenüber). Wir haben kaum Zugriff auf unsere innere Weisheit und unser Wissen.

Im Mentaltraining gibt es den Begriff "Trainingsweltmeister". Er markiert das Phänomen, dass es Menschen gibt, die in der Vorbereitung für etwas unglaublich gut sind, aber in der Hitze des Gefechts, wenn es darum geht, abzuliefern, können sie auf das Potential nicht zurückgreifen. Zu gestresst sind sie von der Situation. 

Ich bin ein Paradebeispiel für einen Trainingsweltmeister. Es fällt mir überaus schwer, im Rampenlicht zu stehen. Diese Situation stresst mich so sehr, dass ich meist nur einen Bruchteil dessen abliefern kann, was ich eigentlich drauf habe. Und das ärgert mich dann natürlich. 

Da fällt mir sofort ein, wie es war, als ich bei einer Konzertwertung des Musikvereins ein kurzes Solo spielen sollte. Zuhause weinte ich fast ob der Emotion, die ich in den Ton legen konnte, doch als ich auf der Bühne saß, ratterte ich es mit zittrigem Körper und hochrotem Kopf mechanisch herunter. Meine Musikkollegen, denen mein Lampenfieber bewusst war, betonten, wie super ich das Solo gespielt hatte. Doch ich wusste genau, dass ich es viel besser gekonnt hätte.

Ich bewundere Spitzensportler für ihre Fähigkeit, einen kühlen Kopf bewahren zu können, wenn es gerade um "alles" geht. Sie sind ein Paradebeispiel für mentale Stärke.

 

Ich führte meinen Waldspaziergang fort, bis mich ein nettes Schauspiel zum Verweilen brachte: zwei Schmetterlinge spielten wie verrückt miteinander. (Zumindest glaub ich, sie haben gespielt) ;-)

Ich dachte mir nur, während wir Menschen da draußen außerhalb der Waldgrenze unsere Leistung wie in einem Hamsterrad erbringen und oft gar nicht mehr wissen, wie Leichtigkeit und Spiel funktioniert, leben es die kleinen Flattergeschöpfe vollends aus. Das ist ihr Lebensinhalt.

Bestimmt 3 Minuten sah ich ihnen zu, da flog einer der beiden Schmetterlinge schnurstracks davon und der zweite suchte den Boden wieder nach Nahrung ab (oder so was ähnliches). Das Schauspiel war vorbei und erinnerte mich an einen weiteren Kursinhalt:

 

Das Gesetz der Evolution.

Es zählte zu den sogenannten "Geistigen Gesetzen" und besagte, dass jede Sekunde Evolution passiert, also Veränderung, Weiterentwicklung. Zugleich beinhaltet es das Prinzip der Vergänglichkeit. Nichts bleibt, jeder Anfang zeugt auch schon wieder vom Ende.

Also war Beständigkeit und Kontrolle nur Illusion. 

Der Gedanke, dass alles endlich war, löste in mir einerseits Wehmut aus, aber durchaus auch Trost. Am tröstlichsten war es natürlich dann, wenn es um Belastendes und Schweres ging.  [Können Schmetterlinge eigentlich Schwere empfinden?]

Wehmut, wenn es um die schönen Dinge ging.

Paulo Coelho schrieb ein Buch, das mir dazu einfällt: "Veronika beschließt zu sterben". 

Eine junge, ambitionierte Frau, die sich das Leben nehmen will. Nach ihrem Suizidversuch wird ihr ein Herzleiden diagnostiziert, welches sie in nur wenigen Tagen umbringen solle. Sie füllte ihre anscheinend letzten Tage mit Leben ohne Kompromiss und lernte es dadurch wieder zu lieben. 

Wie V. Frankl einst sinngemäß sagte: In Anbetracht unserer Endlichkeit wird unser Leben erst richtig lebenswert.

Ohne Ende keine Lebendigkeit.

Würden die Schmetterlinge so herumtollen, wären sie unsterblich?

[An dieser Stelle: R.I.P. "Ginger", die verspielteste und verschmusteste Katze wurde heute durch den Starkhagel getötet]

 

In Gedanken versunken schritt ich weiter durch das Dickicht. 

Es war mehr ein Flow, alles schien klar und natürlich.

Ein Baum zog mich magisch an. Ich blieb stehen und rieb meine Handflächen mit geschlossenen Augen an seiner Rinde, bis ich plötzlich merkte, dass meine Hände wie verrückt klebten, es dafür aber wundervoll roch. "Ist das...??" fragte ich mich und überzeugt mich dann, indem ich meine Augen öffnete. Ich musste schmunzeln. Es war eine Douglasie! Das Harz der Douglasie ist für mich der beste Duft der Welt! Deshalb liebe ich diesen Nadelbaum so. Er ist aber eher selten zu finden. Doch hier zwischen meinen Händen war sie: die einzige ihrer Art weit und breit.

Ich hatte durch das Reiben eine reife "Warze" geöffnet, in denen sich typischerweise ihr Harz befindet. 

Ihr Duftprofil ist klar und frisch, Kopf-Herz-Note. 

Ein Satz unseres Lehrers im Mentaltrainingkurs fiel mir ein: Er glaubt an keine Zufälle.

Ich glaube, ich auch immer weniger.

 

Im Weitergehen roch ich noch ein wenig an meinen beharzten Fingern und ein Anflug einer Erinnerung überkam mich. Um mich zu versichern roch ich nochmals: Ja!  -Weihnachten als Kind.

Plötzlich war alles in mir da: Die Freude und Magie von Weihnachten, das in-den-Wald-gehen am Tag des 24. Dezembers, die Wärme und Aufregung, der Geschmack von Bosna, das Bild der spuckenden Wunderkerzen und deren verbrannter Geruch u.v.m.

Und das alles in einer Millisekunde, das gesamte Erinnerungspaket.

Wo in uns speichern sich solche Erinnerungen? Wo sind sie, wenn sie grad nicht da sind?

Ein weiterer Inhalt unseres Einführungsseminars fiel mir ein: VAKOG. 

 

Visualisierung ist ein gewichtiges Werkzeug des Mentaltrainings. Unsere Gedanken spielen sich in Bildern ab und Bilder sind auch die Sprache, die unser Unterbewusstsein spricht. Unser Unterbewusstsein kann nicht unterscheiden, ob etwas real passiert oder nur in unserer Vorstellung. 

Sehr oft visualisieren wir unbewusst negative Bilder- wir stellen uns vor, was Schlimmes passieren könnte u.s.w.

Man kann sich Visualisierung aber zunutze machen, um eine neue Realität entstehen zu lassen. Ganz einfach, indem wir uns bewusst Wunschvorstellungen hingeben. 

Die Lebendigkeit erhalten unsere inneren Bilder/Visualisierungen durch das Einbeziehen aller 5 Sinne:

 

V isuell (sehen)

A uditiv (hören)

K inästhetisch (spüren, fühlen)

O lfaktorisch (riechen)

G ustatorisch (schmecken)

=VAKOG.

 

Genauso kann ein Sinn das gesamte Bild in uns wiederherstellen.

So wie bei mir der Douglasienduft. Und ich wusste bislang nicht, dass dies irgendwie in Zusammenhang mit Weihnachten stand. Ich mochte den Geruch einfach.

 

Am Heimweg vom Wald fühlte ich mich sehr bereichert. 

Ich hatte nicht mehr viel Zeit bis zum Peergrouptreffen, sollte ich mich noch vorbereiten?

Aber dann hörte ich wieder unseren Lehrgangsleiter, der meinte: Erfolg besteht aus 3 Buchstaben: T-U-N. Einfach tun.