Vor etwa zweieinhalb Jahren war ich mit meinem Freund das erste mal wellnessen.
Wir hatten Weihnachten zuvor einen Gutschein geschenkt bekommen & suchten uns ein wundervolles Gutshotel aus.
Alles war fabelhaft: das Essen, das Ambiente, der Spa.
Eine Auswahl an Saunen bot sich zur Benutzung an. Ich schaffte es gerade mal 5 Minuten in einer Sauna, bis ich vor lauter Unwohlsein über die körperliche Entblößung die Kabine verließ. Anschließend kauerte ich mich auf meine Liege im Ruheraum, schnappte mir alibihalber mein Buch und weinte fast eine Stunde leise vor mich hin. Es ärgerte mich so, dass ich so verklemmt und schamhaft reagierte. Aber ich konnte nicht anders.
Ich weiß noch, dass ich damals zu Gott betete, er möge mir helfen, meine Angst, mich in jeglichem Sinne (nackt) zu zeigen, loszuwerden.
Diese Woche war es erneut so weit. Mein Freund und ich gönnten uns 2 Nächte in einem entzückenden Wellnesshotel im Lungau, eine Saunalandschaft zum Dahinschmelzen...
Als ich in der Zirbensauna so vor mich hinschwitzte, fiel mir ein, dass ich doch eigentlich bieder und verklemmt war.
Ich formte vor Misstrauen meine Augen zu Schlitzen und spürte noch einmal in mich hinein. Aber nein- ich fühlte mich wirklich wohl!
Und so, vor lauter Übermut, chillte ich in der Stollen-, grillte in der Kräuter- & brutzelte in der Almsauna.
Dabei dachte ich darüber nach, was geschehen war. Warum war es mir von einem Tag auf den anderen nicht mehr unangenehm?
Aber halt. Es war gar nicht von einem auf den anderen Tag. Zweieinhalb Jahre lang war viel geschehen....
Rückblickend hatte mir das Leben seit damals immer wieder Fragen in Form von Herausforderungen zum Thema "mich zeigen" und "zu mir stehen" gestellt. Und ich hab sie beantwortet: mal gut, mal weniger gut; manchmal bewusst, sehr oft unbewusst.
Und siehe da, zweieinhalb Jahre später darf ich das erste Mal bewusst Früchte dieses Prozesses ernten.
Prozess. Ein Wort, das sich fast anhört wie etwas Krankhaftes. Wie Abszess.
Hart wie Bart.
Und doch zart.
Laut Anne Wilson Schaef, einer leider heuer verstorbenen US-amerikanischen Frauenrechtlerin und Psychotherapeutin, sind Prozesse das weibliche Pendant zu Uhrzeit (männlich). Sie meinte, man könne das Leben als in Prozesszeit oder Uhrzeit vergehend betrachten. Keines davon war besser oder schlechter. Prozesszeit war gleitender, weiträumiger.
Prozesse waren aus ihrer Sicht eine Reihe sich überschneidender Zyklen.
Sie meinte auch, Prozesse wären (z.B. in therapeutischen Vorgängen) immer wichtiger als Inhalt.
Während wir glauben, dass das Leben immer gleich dahinläuft und hauptsächlich aus Inhalten wie Arbeit, Haushalt, Freizeitbeschäftigung, Schicksalsschlägen, etc. bestehe, laufen zeitgleich verschiedenste Prozesse ab. Zum Beispiel der Prozess des Trauerns um eine Rolle, der Prozess, selbstbewusster zu werden, der Prozess, dass einem egaler wird, dass man manches nicht perfekt beherrscht, der Prozess, seinen Traumpartner anzuziehen.
Wie genial das Leben ist!
Prozess bedeutet Entwicklung.
Ähnlich, wie Schaef, erklärte mir die fabelhafte Dr. Uli Feichtinger einmal, Entwicklung (=Prozesse) fände in Zyklen statt.
Sie skizzierte eine Spirale & erklärte mir (in etwa),
wir wären bei jeglichem Entwicklungsthema am Weg von Außen nach Innen.
Jede Runde bedeute einen Zyklus.
Wir lernen wichtige Entwicklungsvorgänge nicht von Jetzt auf Gleich, sondern hätten mehrere Runden zu drehen.
Ein Punkt in der Runde ist meistens immer besonders herausfordernd, eine besondere Hürde. Wenn man diese meistert, kommt man in die nächste Runde.
Auch in der nächsten Runde gelangt man wieder auf Höhe der Hürde. Erneut wird es schwierig, aber man ist dem Innen schon ein Stück näher.
Zyklus um Zyklus bewegt man sich in Richtung "Innen", in Richtung der eigenen Wahrheit.
Vielleicht denkst du dir gerade: "hää?!".
Es hört sich sehr trocken & missverständlich an,
aber es ist, was andauernd passiert & dir deshalb wahrscheinlich geläufiger als gedacht.
Lass es mich anhand eines Beispiels erklären:
Du möchtest eine Gewohnheit ändern, z.B. regelmäßig Sport betreiben.
Mit neuen Laufschuhen läufst du in der ersten Woche gleich täglich, topmotiviert.
Nach der ersten Motivationsphase kommt aber der Punkt, wo der "Innere Schweinehund" dir zuflüstert, er möchte sich lieber wieder dem "Im-Schlamm-suhlen" und dem "Im-Nursch-wühlen" widmen. Tierlieb wie du bist, gibst du nach & gewährst ihm seine Wünsche.
Tage, Wochen vergehen, es fällt dir unglaublich schwer, dich für Sport zu motivieren.
Aber irgendwann fällt dir wieder ein, wofür du sportlicher sein wolltest und du überwindest dich. Es folgt eine Phase, in der du wieder gerne läufst. "Nie wieder kann mich etwas davon abhalten", denkst du dir voller Freude und Stolz.
Und doch.... die Zeit kommt wieder, in der dich dein Schweinehund an der Couch festbindet und dir mit seiner feuchten Schnauze ein hämisches Grinsen zuwirft.
Es vergehen Tage oder gar wieder Wochen, bis du das Seil soweit gelockert hast, um dich von der Couch zu befreien.
Aber weil dir deine Gewohnheitsveränderung ernst ist, bewältigst du Zyklus um Zyklus,
bis Sport in authentischer Dosis zu deinem Leben gehört wie Schlaf oder Essen.
Zum Glück sind nicht alle Prozesse gleich fordernd.
Manche übersieht man förmlich, bis man irgendwann feststellt, dass sich einiges geändert hat. So wie es bei mir mit der Sauna war.
Für manche Prozesse braucht man aber auch Ahonui, wie man auf Hawaii so schön sagt.
Ahonui steht für "Der lange Atem". "Manche Dinge brauchen Zeit. Du kannst nicht heute einen Samen in die Erde legen und morgen Äpfel ernten. Du kannst dir aber sicher sein, dass der Same aufgeht und zu seiner Zeit reichlich Früchte tragen wird. Bis dahin sei geduldig und beharrlich, und lasse in der Liebe und im Vertrauen nicht nach. Der Baum entfaltet sich von selbst, denn der Same ist gesetzt." (Jeanne Ruland)
Liebend vertraue ich auf sie, die Prozesse, dass sie mich immer mehr in meine Mitte tragen.
Lust auf 'nen Apfel?
Auf Youtube gibtś sogar einen Song, der "The process" heißt...