Gestern hatten wir nach einer langen Durststrecke (im wahrsten Sinne), bedingt durch die Corona-Schutzverordnungen, wieder einmal eine Musiprobe.
Durststrecken sind nicht unbedingt nur Fluch, ihren Segensanteil konnte man gestern sehr gut wahrnehmen: das Zusammenkommen, um zu musizieren, um gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten, hat seinen
Reiz wiedergewonnen & sein zuletzt getragenes Kleid der „Verpflichtung“ abgelegt. Viel bewusster war wieder zu erkennen, dass man aus Lust & freiwillig mitwirkte.
Während einer Spielpause des Blechsatzes, zu dem ich mich zählen darf, wanderte ich mit meinem Blick reihum, um die vertrauten Gesichter meiner Musikerkollegen visuell abzutasten. Hängen blieb
mein Blick beim Hornregister. Da fehlte jemand.
Es ist nichts Ungewöhnliches, dass Kollegen dann und wann nicht anwesend waren. Aber bei dieser Person wusste ich, dass sie auch das nächste Mal nicht da sein würde. Und auch die darauf folgenden
Male. Meine Schwester! Sie war kürzlich der Arbeit wegen, vorerst auf unbestimmte Zeit, nach Kärnten gegangen. Sie bestand bei ihrer Abreise darauf, es nicht als Abschied zu sehen. Sie war
schließlich nicht aus der Welt & womöglich eh in ein paar Monaten wieder zurück.
Ja eh…
Und trotzdem: am liebsten wusste ich meine Familie in meiner Nähe, auch wenn wir uns zum Teil nicht oft sahen. Vielleicht einfach wegen der unmittelbaren Möglichkeit, sich ihrer Gegenwart zu bedienen.
Ich weiß es nicht.
Solche zeitlichen „Abschiede“ (ich weiß schon, es ist keiner..) sind bittersüß.
Es ist eine Art Wehmut, einerseits schmerzhaft, andererseits verweist sie so deutlich auf den Wert, den man dem Verreisten beimisst.
So ironisch es klingen mag, die räumliche Distanz erzeugt ein unglaubliches Nähegefühl auf einer anderen Ebene.
Oder wie Khalil Gibran als „Der Prophet“ einst so schön schrieb:
Wenn ihr von eurem Freund weggeht, trauert ihr nicht:
Denn was ihr am meisten an ihm liebt,
ist vielleicht in seiner Abwesenheit klarer,
wie der Berg dem Bergsteiger von der Ebene aus klarer erscheint.
Nach der Musiprobe ließ ich es mir nicht nehmen, mit ein paar anderen noch ins Wirtshaus einzukehren. Meine Schwester hätte bestimmt gesagt: „Jo sicha gehst nu mit. Af oa Dringa...Füa de Gsöhschoft!“
Ein paar Sommerspritzer & wertvolle Gespräche später fand ich, dass der Abend noch nicht ganz vorbei war. Ich setzte mich auf unsere Terrasse (jetzt fällt mir erst auf, wie hart dieses Wort klingt. Erinnert mich ans Militär- Terrasse), drehte mir im Hintergrund leise eine „Acoustic Rock Playlist“ auf, und sann mit einem Gläschen „gspritzten Mostes“ nach. Unterstrichen wurde die Stimmung vom Regen, der sanft (nicht hart) aufs Terrassendach prasselte, & den Rufen einiger Nachtvögel.
Ich fragte mich, warum es meine Schwestern immer wieder in die Ferne zog. Weltreise da, Auslandssemester dort, Aupair da, Arbeiten auf einer Finca dort.
Ich bewunderte sie auch. Denn es war nicht so, dass sie furchtlos waren. Viel eher wagten sie trotz Angst. Das ist Mut!
Wofür riskierten sie diesen Mut? Was sah dabei heraus?
Ich schaute ins Nichts & dachte darüber nach, bis mein Blick wieder klarer wurde & ich erkannte, wo er hängengeblieben war: an meinen Tomatenpflanzerln. Ich hatte sie erst 2 Tage zuvor
pikiert und jedem einen eigenen Pflanztopf gegönnt. Wie sie „anschoben“, jetzt wo sie mehr Platz hatten! Sie waren innerhalb der letzten 2 Tage viel robuster und größer geworden & trugen auch
mehr Blätter.
Und plötzlich verstand ich, was sie mir in diesem Moment sagen wollten.
Um wachsen & sich selbst auf die Füße stellen zu können, um neue Blätter zu entwickeln & sich tiefer zu verwurzeln, bedarf es genügend Eigenraum. Wenn man immer auf einem Haufen pickt (& unsere Familie ist ein Haufen), nimmt man sich oft nicht die Nährstoffe, Wärme und den Platz, den man grundsätzlich braucht, um zu gedeihen.
Meine Schwestern pikieren sich von Zeit zu Zeit selbst!
Ich mochte diese Erkenntnis, sie zeugte von der (unbewussten) Selbstliebe meiner Schwestern.
Mein Grinsen wurde breiter, als der Radio plötzlich „November Rain“ von Guns N‘ Roses spielte, mit dem Refraintext „Everybody needs some time on their own“.
Die Antworten, sie liegen auf der Straße. Du musst dich nur bücken und sie aufheben. Nein, Blödsinn: du musst nicht, du darfst! Es ist eine frei verfügbare Weisheit, die sich ähnlich der süßen kleinen Heidelbeeren, die ich kürzlich beim Wandern an der Schlögner Schlinge genießen durfte, anbietet.
Im Grunde kommen wir im Leben vom Pikieren nicht aus, denn wenn wir es nicht selbst tun,
greift uns ein übergeordneter Gärtner unter die Arme und pikiert uns.
Im vergangenen Jahr hätte ich es beinahe übersehen. Ich wäre an der Unausgewogenheit dessen, was ich an Wärme, Nährstoffe und Platz bekommen und abgegeben habe, fast eingegangen.
Zum Glück kratzte ich noch die Kurve & schaffte es, mich selbst zu pikieren.
Was ich in den vergangenen Monaten gelernt habe, ist, dass es ein Irrtum ist zu glauben, man bekomme von selbst genügend Platz, Wärme und Nährstoffe geliefert.
Man hat sie sich zu bestellen, zu nehmen, sich selbst zu geben. Man darf. :)
Das Leben ist eine riesige Gärtnerei.
Die Pflanze, um die man sich kümmern darf, ist man selbst.
Der übergeordnete Gärtner traut uns zu, dass wir diese wertvolle Pflanze für ihn großziehen.
Er gibt uns genügend Raum zur Entwicklung von Selbstheilungskräften, lässt uns unser eigenes Immunsystem kreieren,
wir dürfen aber darauf vertrauen, dass er eingreift, wenn es notwendig ist.
Wie unser Logotherapie-Mentor C. Schlick so gerne sagt:
Das Leben, es fordert uns bis an unsere Grenzen. Aber es überfordert uns nicht.
Was Mutter Teresa dazu sagte?
Ich weiß, dass Gott nie mehr von mir verlangen wird, als ich ertragen kann. Ich würde mir nur wünschen, er würde mir nicht gar so viel zutrauen...